Er hatte nie an Schwellen geglaubt.
Nicht an Wendepunkte. Nicht an Zeichen.
Nur an Leistung. Zielzahlen. Kalenderwochen.
Aber irgendetwas war an diesem Morgen gerissen.
Nicht laut. Kein Drama. Kein großes Finale.
Einfach nur ein stilles Knacken, irgendwo tief in ihm –
wie bei einer überdehnten Gitarrensaite, die niemand gestimmt hatte.
Er war allein im Büro gewesen.
Die Jalousien halb heruntergelassen.
Die Luft tot. Das Handy vibrierte stumm in der Jackentasche.
Vor ihm: die fünfzehnte Version einer Präsentation,
die ihm schon in der dritten egal gewesen war.
Er wusste nicht mehr, für wen er das machte.
Seine Frau war mitsamt der Kinder gegangen.
Hatte ihm Vorwürfe gemacht, wie egal ihm doch alles außer seiner Arbeit sei.
Und dann – nichts.
Kein Gedanke. Kein Plan.
Nur ein Wunsch, so leise, dass er kaum ein Wunsch war:
Nur einen Tag.
Einen einzigen Tag, an dem nichts schnell ist.
Nur einmal atmen, wie früher.
Er schloss die Augen, nur für einen Moment alles ausblenden.
Als er sie wieder öffnete,
blinzelte er.
Und stand barfuß auf kaltem Laminat.
Sein altes Kinderzimmer.
Poster an der Wand.
Der kleine Holzschreibtisch mit dem ausgefransten Radiergummi und den Bravozeitschriften,
Diddlblätter überall verstreut.
Der alte Walkman und die Lavalampe auf dem Nachttisch.
Und draußen – der Klang von Zombie aus dem Küchenradio.
Er sah an sich hinab, ungläubig und voller Staunen.
Er war wieder da.
In seinem Kinderkörper.
Die Glieder kleiner, die Haut weicher, das Herz offen –
und trotzdem war alles in ihm da.
Das Jetzt.
Der Schmerz.
Die Müdigkeit von Jahrzehnten.
Er wusste, wer er war, wer er mal werden würde…
und dass er alles verlieren würde.
Er hörte ihre Stimme.
„Frühstück wird kalt!“
Ein Ruf aus einer anderen Zeit.
Und er ging.
Keine Fragen.
Nur Schritte.
Die Treppe knarzte wie früher.
Und dann war sie da.
Seine Mutter.
Die gleiche Bluse mit dem kleinen Fleck auf der Schulter.
Der Geruch von Kaffee, Toast, Vanille und einer Zigarette in der Luft.
Und als er sie umarmte, zitterten seine Arme –
nicht vor Kälte.
Sondern weil etwas in ihm zerbrach,
das so lange festgehalten hatte.
Sie hielt ihn.
Einfach so,
so wie sie es immer getan hatte,
wenn er sich das Knie aufgeschürft hatte.
Dann fragte sie verwundert:
„Was ist los, mein Schatz? Geht es dir heute nicht gut?“
Seine Kinderstimme –
erstickt von Tränen –
antwortete:
„Nein Mama, mir geht es nicht gut. Ich hatte einen Alptraum.“
Und sie küsste seine Stirn.
Sag nichts mehr, mein Junge.
Ich bin da.
Der Rest des Tages war wie durch goldenen Nebel.
Fahrrad fahren.
Kratzeis essen.
Mit seinen alten Freunden auf Bäume klettern.
Lachen auf der morschen Schulbank.
Ein Lied auf Kassette.
Die Sonne am Horizont seiner Kindheit.
Diese Leichtigkeit hatte er schon lange nicht mehr gespürt.
Kein Termindruck.
Kein Internet.
Kein Handy.
Als die Straßenlaternen angingen, kehrte er zurück … nach Hause.
Selten hatte sich etwas so richtig angefühlt wie das hier.
Er saß mit seiner Mutter auf der Couch,
schaute Die Dinos –
und dann umarmte er sie ganz fest und sagte:
„Ich hab dich so lieb, Mama.“
„Ich weiß, mein Schatz.“
Dann legte er sich in sein Bett,
das erste Mal seit langem glücklich,
und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, war um ihn herum Nebel.
Und eine einzelne Tür.
Verwirrt blickte er sich einen Moment um, er war wieder in seinem Erwachsenenkörper. Genau die Klamotten, die er im Büro angehabt hatte. Teurer Anzug, Krawatte, die nun schief saß, Lederschuhe. In seiner Hand eine Kassette mit der Beschriftung „Sommer 97“. Ihm traten Tränen in die Augen.
Dann stand er auf.
Spürte, wie die Luft sich verändert hatte.
Nicht kühl – aber anders.
Weicher. Tiefer.
Er ging auf die Tür zu.
Legte die Hand an das grobe Holz.
Und öffnete sie.
Er betrat die Taverne.
Holz.
Rauch.
Ein Kamin.
Ein Tresen, der nach Kräutern und Honig roch.
Er blinzelte.
Die Welt war anders.
Nicht seine Wohnung. Nicht das Jetzt.
Das hatte er nicht erwartet nun und die Überraschung saß tief.
Die Kassette in seiner Hand war warm.
Und der Stuhl, auf den er sich setzte, knarzte wie eine Erinnerung.
Die Frau hinter dem Tresen reichte ihm einen Becher.
Kein Whiskey.
Tee.
Kräuterig, bitter, süß.
„Du bist weit gereist“, sagte sie.
„Vielleicht nur ein paar Straßen. Vielleicht Jahrzehnte“, murmelte er mehr zu sich selbst und trank.
Der erste Schluck, der ihn nicht weitertrieb,
sondern hielt.
Er ließ langsam den Becher sinken und sah sich um.
Das Holz der Wände. Das Knistern des Kamins.
Der Staub in der Luft, der im Licht tanzte wie Pollen… nein, diese Partikel leuchteten von sich aus.
Was war das hier? Ein Traum oder Wahnsinn?
Alles war so fremd.
Und doch wirkte es… stiller als das Glück.
Wie eine Antwort, auf eine nie gestellte Frage.
„Ich…“ Er setzte an, stockte.
Rieb sich mit der Hand über die Stirn.
„Ich glaube, ich war wieder… ein Kind.“
Genevieve sagte nichts. Nur ein leichtes Nicken.
„Also – ich war ich.
Aber… ich hatte meinen alten Körper. Alles war klein. Leicht. Offen.
Aber ich wusste alles. Alles, was ich jetzt weiß.“
Er legte die Kassette vorsichtig auf den Tresen.
„Ich war bei ihr. Bei meiner Mutter. Ich hab’s ihr gesagt. Dass ich sie lieb hab.“
Seine Stimme zitterte.
„Sie hat einfach nur gesagt: Ich weiß, mein Schatz.“
Genevieve sah ihn an.
Mit diesem Blick, den man nicht beschreiben kann.
Nicht weich. Nicht hart. Nur offen.
Wie ein stiller Spiegel.
„Und jetzt bin ich hier… Sie halten mich bestimmt für verrückt.“
Er lachte freudlos auf.
„Ich weiß nicht, ob ich träume.
Oder ob ich noch auf diesem Bürostuhl sitze und einfach nur…“
Er brach ab, war so unendlich müde und verwirrt. Fand keine Worte mehr.
Sie hingegen legte einfach ein Tuch auf den Tisch.
Ein einfacher, heller Stoff, grob, handgewebt, warm.
„Manche Wege enden nicht da, wo man dachte, dass sie enden.
Und manchmal“, sagte sie leise, „schenkt die Zeit dir einen Ort zum Ankommen.“
Er nickte langsam.
Nahm die Kassette. Wickelte sie in das Tuch.
Und plötzlich war da wieder dieser Geruch:
Waschpulver. Vanille. Regen. Zigaretten.
„Dann war sie es, oder? Es war ein Geschenk von ihr.“
Seine Stimme war kaum hörbar.
„Sie ist gestorben, meine Mutter. Hatte Krebs. Ich habe sie in den Monaten bevor sie starb immer weniger besucht, immer wieder hab ich sie vertröstet, wenn sie anrief. „Keine Zeit. Die Arbeit““
Geistesabwesend schaute er in seinen Becher „Ich habe vergessen, was wirklich wichtig ist. Sie muss gedacht haben, ich habe sie nicht mehr lieb.“ Tränen rollten seine Wange hinab.
Genevieve sah ihn lange an.
Dann:
„Manche Liebe stirbt nicht.
Sie findet Wege, selbst wenn Zeit und Raum sie längst vergessen haben. Manchmal öffnet diese Liebe auch Türen.“
Ein warmes Lächeln von ihr.
„Und glaube mir, deine Mutter wusste, dass du sie liebst und sie wusste, dass du dabei bist, dich selbst zu verlieren.“
Ein Zittern durchfuhr ihn.
Und mit diesem Zittern kam: Stille.
Nicht diese leere, verzweifelte Stille.
Sondern einfach nur…Frieden.
Und er schloss die Augen und Nebel umfing ihn.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war.
Vielleicht Minuten.
Vielleicht Jahre.
Vielleicht auch nur ein einziger Herzschlag.
Als er die Augen wieder öffnete, war er in seinem Haus.
Ein Traum aus Chrom und Glas.
Es dämmerte und die Welt lag still vor ihm.
Aber etwas war anders.
Er war anders.
Er spürte es in seinem Inneren, ein warmes Kribbeln.
Er saß barfuß auf dem Boden.
Die Krawatte war verschwunden und sein Hemd geöffnet.
In seiner Hand: das in Stoff gehüllte Mixtape.
Er lächelte und hob es an die Nase.
Der Geruch war noch da.
Vanille. Waschpulver.
Ein Sommerregen.
Mit einem tiefen Atemzug stand er langsam und bewusst auf.
Er ging in die Küche, zog die Uhr vom Handgelenk.
Lies den Laptop zugeklappt.
Nahm sein Smartphone von der Marmorarbeitsfläche und wählte eine Nummer.
Es klingelte.
Lange.
„Papa?“
Er schluckte.
Lächelte.
„Ich wollte nur hören, wie’s dir geht.“
Stille.
Dann ein leises Lachen.
„Jetzt, wo du’s sagst… ja, ich glaube es geht mir auch gut.“
Er sah zum Fenster hinaus.
Die Sonne stand tief.
Gold auf Glas und auf seinem Gesicht ein Lächeln – ein echtes Lächeln.
„Ich fang gerade erst an.“