Das Feuer war still geworden. Nur ein paar Glutadern glommen unter der Asche, und es schien, als lausche die Taverne selbst.

Bartholomäus saß noch immer am Tisch, den Kompass zwischen den Händen wie ein widerspenstiges Geheimnis. Die Nadel zuckte, als hätte sie eine eigene Meinung. Er nahm einen Schluck Tee, schob die Brille hoch und schnaubte. „Baldrian. Pah. Schmeckt, als hätte jemand Wiese in Wasser gekocht.“

Genevieve schwieg. Ihre Augen ruhten auf ihm, still, wartend. Nur ihr Mundwinkel zuckte leicht.

„Verflixt nochmal, Wirtin … du hast diesen Blick. Als hättest du die Antwort, noch bevor ich die Frage gefunden hab.“

Ein weiteres Zucken ihrer Mundwinkel, gefolgt von einem verstohlenen Lächeln. „Vielleicht.“

Bartholomäus klopfte erst auf den Tisch, dann gegen den Kompass, als wolle er ihn zum Reden bringen. „Ich schwör’s dir: Das Ding hat ein Geheimnis. Irgendwas darin dreht sich nicht nach Norden, sondern nach Sinn. Ich hab’s nur noch nicht raus.“

Die Nadel vibrierte zustimmend.

Er lehnte sich zurück, die Augen funkelten. „Also gut. Wenn du’s wissen willst – es begann …“ Ein winziger Funken Ehrfurcht schlich sich in seine Stimme. „… an dem Tag, an dem ich starb.“

Er schnaubte. „Ich war nie ein Held, Wirtin. Keine Rüstung, kein Schwert, nur ein Mann mit mehr Büchern als Platz. Ein Gelehrter, der sein Leben in Tinte und Randnotizen gemessen hat.“

Er schob die Brille hoch, als müsse er die Aussage beglaubigen.

„Mein Archiv … ach, mein Archiv! Wände so voll, dass selbst die Spinnen dort Lesepausen einlegten. Es roch nach Staub und Geschichten, nach all dem Wissen, das die Welt vergessen wollte.“

Ein schiefes Grinsen. „An dem Tag wollte ich nur ein Buch. Ein einziges. Und natürlich lag es ganz oben. Wo sonst? Ich schwöre, die Bücher haben Humor.“

Er lehnte sich zurück, faltete die schmalen Finger vor dem Bauch. „Also rauf auf den alten Schemel – den wackeligen, den ich seit Jahren reparieren wollte. Fingerspitzen fast dran … und dann: schwupps.“

Er riss die Arme in die Höhe, fuchtelte wild herum, simulierte bildlich den Sturz. „Der ganze verdammte Abschnitt. Hunderte Jahre Wissen, direkt auf meinen Kopf. Ein Gelehrter – von Wissen erschlagen. Wenn das kein sarkastisches Schicksal ist …“

Er hielt inne, eine seltsame Wärme legte sich in seine Stimme. „Mein letzter Gedanke? Kein ‚Warum ich‘. Kein ‚Oh nein‘. Nur: Interessant. Das fühlt sich an wie ein Kapitelende.“

Die Taverne war still. Nur die Glut knackte.

„Dann … nichts. Keine Bücher, kein Körper, kein Schmerz. Nur Stille. Wie das Töröffnen zwischen zwei Atemzügen.“

Seine Augen weiteten sich. „Und da stand sie.“

Er sog scharf die Luft ein. „Eine Frau in Schwarz. Nicht einfach ein Kleid, nein – als hätte die Nacht selbst sich in Stoff gelegt. Und um sie … Krähen, ein ganzer Schwarm. Schienen aus dem Nichts zu kommen, wie Tinte, die ins Wasser tropft. Ihre Augen … Wirtin, ich schwöre, die haben in mein Innerstes geschaut. Absolut faszinierend und unheimlich zugleich.“

Ein ungläubiges Lachen. „Und mein erster Gedanke? Nicht Ehrfurcht. Nicht Angst. Sondern: Verflixt nochmal, was ein dramatischer Auftritt!“Er ahmte ihre Stimme nach, mehr schlecht als recht: „Es ist Zeit.“

Bartholomäus lehnte sich vor. „Und ich alter Narr, steh da, tot wie ein Fisch und sag: ‚Warten Sie. Was liegt dahinter?’“

Genevieves Mundwinkel zuckten wieder.

„Sie sah mich an. Lange. Kein Spott. Keine Eile. Nur dieses Gewicht. ‚Du bist gestorben‘, sagte sie.

Und ich, sturer Gelehrter, zuck die Schultern: ‚Und? Das ist doch nur ein Umweg. Es gibt noch zu viel zu entdecken.’“

Seine Finger umgriffen den Kompass. „Sie lächelte. Ganz leicht. Als hätte sie das lange nicht mehr getan. Dann sagte sie: ‚Wenn du gehst, wirst du dich verlaufen. Und du wirst nie ankommen.’“

Ein kurzes Schweigen, fast ehrfürchtig. „Und ich bin einfach weitergegangen. Mitten ins Nichts.

Kein Boden, kein Himmel, nur Kälte. Nebel, der nicht aus Wasser, sondern aus Vergessen bestand.“

Bartholomäus rieb sich unbewusst die Hände. „Dann … Licht. Ich dachte: Jetzt kommt das Jenseits.

Stattdessen: eine verflixte Wüste. Kein Sand. Staub. Feiner Staub wie aus zerfallenen Büchern. Die Luft roch nach Geschichte.“

Seine Augen blitzten. „Und über allem: ein Himmel kurz nach Sonnenuntergang. Zwei Monde, groß wie Schilde. Und eine Pyramide. Nicht aus Stein, sondern aus Licht. Violett und Gold. Es wirkte, als sei der Abend hineingegossen worden.“

Ein fast kindlicher Ton. „Ich stapf´also hin. Kein Eingang, nur eine Fläche, die nachgibt. Drinnen: Stille. Aber voller Bedeutung. Die Wände wie schimmernde Haut, das Licht schwamm darin. Und mittendrin: ein Sockel. Klein. Schlicht. Und darauf: er.“

Er tippte auf den Kompass. „Als hätte jemand gesagt: ‚Warte hier. Der Trottel kommt.’“

Ein Lachen. „Seitdem lande ich regelmäßig … hier.“

Genevieve schwieg, ihr Blick weit. Dann ein Lächeln. „Du bist ganz schön weit gegangen.“

Er schnaubte. „Wenn ich je wieder in diese Wüste komme, bring ich einen Wasserschlauch mit.“

Sie strich über das Holz. „Manche Wege führen nicht irgendwohin. Sie führen dahin, wo man etwas finden soll.“

Er blinzelte. „Soll ich der Pyramide danken?“

„Vielleicht.“

In diesem Moment vibrierte der Kompass. Die Nadel blieb für einen Herzschlag stehen. Sie zeigte nicht nach Norden. Sie zeigte auf Genevieve.

Bartholomäus bemerkte es nicht. „Manchmal glaube ich, das Ding verarscht mich.“

Genevieve sah auf die Nadel. „Oder es zeigt dir, wo du sein sollst.“

Er grinste. „Dann mal sehen, wohin es mich nicht schickt.“

Er stand auf, groß und ein bisschen unordentlich. „Aber eins sag ich dir: Wenn das hier ein Umweg ist … dann ist es der beste Umweg, den ich kenne.“

Die Tür öffnete sich. Der Wind brachte feuchte Nachtluft. Doch diesmal wartete nicht nur Dunkelheit dahinter.

Eine Gestalt stand im Rahmen. Schemenhaft, wie aus Nebel gewebt. Eine Frau mittleren Alters. Jeansjacke. Neunzigerjahre. Alles an ihr schrie Vergangenheit.

Bartholomäus blinzelte. „Verflixt … äh, N’Abend.“

Er machte einen Bogen um sie, stapfte hinaus. Sein „Verflixt nochmal …“ hallte leise nach. Die Frau drehte sich, überrascht, überhaupt gesehen worden zu sein. Ihre Stimme: brüchig. „Ich …ich muss ihm helfen. Meinem Jungen. Bevor …“

Der Rest verging im Flüstern.

Genevieve stand bereits. Ihre Stimme: sanft, aber fest. „Komm herein.“

Die Frau nickte, als erinnerte sie sich an ein altes Versprechen, und trat über die Schwelle. Kurz verschwamm sie, dann wurden ihre Konturen schärfer, lebendiger.

Ein Geist hatte die Taverne gefunden.