Das Feuer knisterte leise, als die Tür aufging. Ein Windstoß trug den Duft von feuchtem Laub hinein – und etwas anderes. Etwas, das nicht nach draußen roch, sondern nach innen.

Im Türrahmen stand kaum mehr als eine Ahnung von Gestalt. Ein Kind, barfuß, das Kleid vom Staub vieler Wege bedeckt. In ihren Händen hielt sie etwas so vorsichtig, als könnte schon ein zu tiefer Atemzug es zerbrechen.

Genevieve hob kurz den Blick von den Tassen, die sie sortierte. Kein „Komm rein“, kein „Wer bist du?“ – nur ein leichtes Nicken in Richtung des Kamins.

Die Kleine schlich zum Feuer und setzte sich so behutsam, als könnte der Stuhl unter ihr lebendig sein. Langsam öffnete sie ihre Hände.
Etwas Dunkles kroch daraus hervor, dünn wie Rauch, schwer wie Nacht. Es bewegte sich nicht wie ein Tier – und doch … schien es zu schnuppern, als das Feuerlicht es berührte.
„Es hat Hunger“, hauchte sie, ohne aufzusehen.
Genevieve stellte eine Tasse neben sie. „Dann lass es essen.“

Der Schatten glitt durch ihre Finger, tastete sich dem Kamin entgegen. Genevieve beugte sich ein Stück vor, als wollte sie etwas sagen –

WUMMS!

Die Tür flog auf. So heftig, dass die Gläser an der Theke klirrten. Ein Schwung Herbstlaub und zerzauste Flüche wirbelte in den Raum.
„Verflixt nochmal! Schon wieder hier?!“ brüllte eine Stimme, noch bevor der Staub sich legte.

In der Tür stand ein großer Mann, ein Sturm in Menschengestalt. Grauer Rauschebart, wilder Haarschopf, auf seiner Hakennase eine runde Brille, die gefährlich wackelte. Sein blaues Gewand flatterte, als hätte es selbst genug von seinen Reisen. In der Hand hielt er einen Kompass, der sich drehte, als wollte er in Ohnmacht fallen.

„Ich schwöre bei allen Sternen und Wegen, dieses verflixte Ding ist zu NICHTS nütze!“ Er stapfte herein und knallte den Kompass auf den nächstbesten Tisch, der beleidigt knackte.

Der dunkle Schemen zuckte zusammen und flackerte panisch zurück in die kleinen Hände. Das Kind schützte ihn sofort mit ihren Fingern.
Genevieve atmete durch, lehnte sich an den Tresen.
„Schön, dass du auch wieder da bist, Bartholomäus.“

Er riss den Kopf hoch, fuchtelte mit den Armen. „Schön?! Das hier ist ein Fluch, Wirtin! Ein kosmischer, verdammter Fluch! Jedes Mal, wenn ich denke, ich hab die richtige Abzweigung gefunden, lande ich …“ – er sah sich um, entdeckte das Kind und den zuckenden Schatten – „… in dieser gemütlichen, kleinen Falle!“
Genevieve hob eine Braue. „Es ist keine Falle. Es ist eine Taverne.“

Der Mann stapfte wie ein Gewitter quer durch den Raum. Der Schemen duckte sich tiefer in die schützenden Finger.
„W … wer ist das?“, flüsterte die Kleine, kaum hörbar.
„Das“, sagte Genevieve, während sie eine Tasse nahm, „ist Bartholomäus. Er hat ein … Talent, sich zu verirren.“

„Ich VERIRRE mich nicht!“ Bartholomäus fuchtelte so wild, dass der Kompass noch einen hysterischen Dreh machte. „Ich folge Karten. Sternen! Pfaden! Und dann – WUSCH – lande ich wieder hier, wie ein Bote ohne Ziel!“

Genevieve hörte ihm kaum zu. Ein wenig Hopfen, ein Hauch Baldrian, heißes Wasser. Das leise Klirren des Löffels schnitt seine Donnerstimme für einen Moment entzwei.

Sie stellte die dampfende Tasse genau in seinen Weg.
„Trink.“

Einen Augenblick später saß er. Hände um die Tasse, als hätte er nie etwas anderes vorgehabt.

Die Kleine riskierte einen Blick. Auch der Schatten schien den Duft zu mögen; er vibrierte ein kleines Stück weniger.
„Er ist … groß“, flüsterte sie.
„Laut“, korrigierte Genevieve trocken. „Und harmlos. Meistens.“

Bartholomäus brummte empört, aber der Baldrian färbte seine Stimme schon eine Nuance leiser.

Die Wärme des Feuers küsste die blassen Wangen der Kleinen rosig.
„Du hältst ihn sehr fest“, sagte Genevieve leise.
„Wenn ich loslasse, verschwindet er. Oder … er wird größer.“ Ihr Blick ging nicht von den kleinen Händen. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist.“

„Und wenn er wächst – was macht er dann?“

Eine Pause. Das Feuer atmete.
„Er flüstert“, hauchte sie. „Sachen, die ich nicht hören will. Sachen, die sich wahr anfühlen.“

Genevieve nickte. „Vielleicht will er nicht verschwinden. Vielleicht will er, dass du ihn hörst.“

„Aber … er macht mir Angst.“

„Manchmal haben Dinge Angst, die uns Angst machen.“ Ein Hauch von Lächeln. „Hast du ihn schon gefragt, was er braucht?“

„Ich dachte … er will was zu essen. Oder zu trinken. Er fühlt sich immer so … leer an.“

„Vielleicht ist er gar nicht leer.“ Genevieves Stimme war weich. „Vielleicht ist er nur … im Dunkeln.“

Ein Funke sprang aus der Glut. Dann noch einer. Es klang, als hätte das Feuer gelacht.
Ein Lichtball kugelte aus der Asche, stolperte auf den Teppich und formte sich zu einer flackernden Kindergestalt.

Die Kleine schnappte nach Luft. Der Schatten in ihren Händen zitterte.
Das kleine Feuerwesen schüttelte sich, Rauchwölkchen tanzten.

„Das ist Calen“, sagte Genevieve und sah das Licht mit diesem Blick an, den nur Mütter kennen. „Vielleicht weiß er mehr.“

Calen sagte nichts. Nur ein warmes Knistern, wie Holz, das von innen lächelt.
Sein Licht streifte den Schemen. Für einen Herzschlag glühte darin ein winziger Funke.

Bartholomäus setzte die Tasse ab. „Potzblitz! Das ist es!“
Er schob die Brille zurecht, als hätte er eine Eingebung. „Nicht Brot. Nicht Wasser. Licht!“

„Und gesehen zu werden“, ergänzte Genevieve sanft. „Er will nicht gefüttert werden, Kind. Er will, dass du ihn ansiehst. Dass du ihn erkennst.“

Ganz vorsichtig hob sie den Schatten näher ans Feuer. Er zuckte, wollte fliehen – und blieb. Dehnte sich. Atmete. Der kleine Funke glühte heller.

Calen kicherte, ein Knacken im Holz, und verschwand zurück in die Glut.

Der Schemen schmiegte sich in ihre Finger, zeigte zum ersten Mal eine Form. Keine Fratze, kein Ungeheuer. Nur etwas Rundes. Verletzliches.
Etwas, das sich wie eine Katze an ihre Hände legte.

Tränen liefen ihr über die Wangen, noch bevor sie wusste, warum. „Du bist … du bist nur ich.“

„Der Teil, den du nicht anschauen wolltest.“ Genevieves Stimme war kaum mehr als ein Atemzug.

Der Schatten vibrierte, diesmal nicht vor Angst. Der kleine Funke leuchtete, als hätte er endlich seinen Platz gefunden. Ganz sacht glitt er zurück – nicht fort, sondern hinein. Unter ihre Haut, in die kleine Brust, aus der er gekommen war.

Einen Moment lang schien es in ihr zu glühen, weich wie das Licht des Feuers.
Sie atmete tief. Zum ersten Mal seit Langem. Dann lächelte sie – nicht klein, nicht schüchtern. Ein Lächeln, das den ganzen Raum hell machte.

„Er fühlt sich … warm an.“

„Weil er dazugehört.“ Genevieve legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Und du ihn endlich nach Hause gelassen hast.“

Langsam stand sie auf. Noch immer dieses neue, leichte Lächeln im Gesicht. „Danke.“

„Danke dir“, sagte Genevieve, „dass du ihn nicht fortgeschickt hast.“

Ein letzter Blick zum Feuer. Ein Funken, wie ein Zwinkern.
Dann schloss sich die Tür hinter ihr mit einem sanften Klick.

Nur das Knistern blieb.
Genevieve drehte sich zu dem Mann mit dem Kompass um, der an seinem Tee nippte.
Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich. „So … du verirrter Mann. Erzähl.“

Bartholomäus legte den Kompass ab, grinste schief.
„Das wird eine lange Geschichte.“

In der Glut knackte es leise. Es klang wie ein Kinderlachen.