Manche Geschichten beginnen mit einem Sturm. Diese hier beginnt mit einem Ende und einem Sturm. Oder vielleicht mit einem Anfang – es kommt darauf an, von welcher Seite man schaut.

Es war still. Nicht die friedliche Stille einer Nacht, sondern eine Stille zwischen zwei Atemzügen. Sein Körper lag in dem behaglich eingerichteten Zimmer, schwach, während seine Seele sich löste und auf etwas Unbekanntes zutrieb.

In dieser Nacht tobte der Wind durch den Wald zwischen den Welten. Die Bäume ächzten, und zwischen ihren Wurzeln kroch der Nebel wie ein atmendes Tier empor. Kein Lebewesen war draußen unterwegs; alles hatte sich in seine Behausung zurückgezogen, während der Regen wie flüssiges Glas vom Himmel fiel.
Mitten durch den Wald führte ein schmaler Pfad, kaum mehr als ein von vielen Füßen gezeichneter Abdruck. Er führte zu einem Haus, dessen Licht selbst durch das peitschende Wetter warm und einladend wirkte: die Taverne „Zur Schwelle“. Und dort, auf diesem Pfad, begann die Luft zu knistern, als hätte jemand einen Faden Elektrizität in die Welt gesponnen. Die Luft vibrierte, ein leises Knistern wie von unsichtbaren Funken schlich durch den Regen. Dann war da ein dumpfer Knall – nicht laut, eher wie ein Herzschlag, der kurz in der Welt nachhallte. Vor der Taverne flackerte die Luft, und inmitten des Sturms begann ein sanftes Leuchten zu wachsen. Kein grelles, blendendes Licht, sondern ein warmes, weiches Glimmen, das sich vorsichtig ausbreitete, als wollte es nicht stören. Es wuchs zu der Größe einer Tür heran.Ein Mann trat hinaus. Ein Umhang hing schwer an seinen Schultern, vom Regen sofort dunkel durchtränkt. Sein Gesicht lag im Schatten der Kapuze, und doch spürte jeder Atemzug des Waldes: Er gehörte nicht hierher. Ein Mensch.
Friedhelm blinzelte. Kein Zimmer, kein Bett. Stattdessen ein schmaler Pfad, eingerahmt von knarzenden Bäumen, Regen und Sturm. Er sah an sich hinunter. Jogginghose. Hauslatschen. Und … ein Umhang? Er griff das Tuch zwischen seinen Fingern und seine Mundwinkel zuckten nach oben. „Hundertpro ein Traum“, murmelte er. Der Pfad sog seine Schritte auf. Das „Flap-Flap“ seiner nassen Latschen wirkte fehl am Platz. Jeder einzelne Schritt war, als würde er nicht auf Erde, sondern auf einem Faden zwischen den Welten gehen. Er war groß, alt und viel zu dünn, wie eine Skizze, in der jemand die letzten Striche vergessen hatte. Als er den Kopf hob, fingen die leuchtenden Früchte der Bäume das Blau seiner weit aufgerissenen Augen ein. Sein Schnurrbart zitterte im Wind, und für einen Moment schien er selbst nicht zu glauben, dass er hier war. Vor ihm glomm das Licht der Taverne. Er zögerte nicht lange – und schlurfte darauf zu. Der Pfad endete direkt vor ihren Steinstufen, schiefes Dach, warmes Licht.
„Rollenspiel-Kneipe“, murmelte er und schnaubte. „Meine Tochter hat doch letztens noch irgendwas von so ’nem Kram erzählt.“ Der Regen hing noch schwer an seiner Haut, als er die Tür erreichte. Er wusste nicht, warum er hier war. Er wusste nur, dass seine Beine ihn hierher getragen hatten – und das war weitaus mehr, als sein Körper die letzten Monate geschafft hatte. Er drückte die Klinke hinunter und staunte.
Der Sturm blieb draußen. Hier drinnen herrschte eine andere Welt.
Der Raum schien größer, als er von außen gewirkt hatte, als hätte er sich im Moment des Öffnens ausgedehnt, um ihn zu empfangen. Die Wärme, die ihn umhüllte, fühlte sich nicht nur wie die des Feuers an – sie hatte etwas von einer Umarmung. Von dem Gefühl nach Hause zu kommen. Kleine leuchtende Partikel stoben auf und umflirrten ihn, als wollten sie ihn freudig begrüßen. Für einen Augenblick glaubte er, die Zeit hätte hier beschlossen, stillzustehen, nur um ihn zu empfangen. Der Duft von frischem Brot, herzhaftem Eintopf und Kräutern lag in der Luft.
Sein Blick glitt über einen Raum, der wie aus der Zeit gefallen war: grobe Holztische, blank poliert; Regale voller Krüge und Schalen, durchzogen von Rankwerk, das selbst im Kerzenschein grün leuchtete; ein Kamin, in dem das Feuer leise knisterte, als würde es zuhören. Über allem lag eine Wärme, die nicht nur von der Heizquelle kam, sondern aus den Wänden selbst zu atmen schien. Er trat ein. Seine Latschen quietschten auf den Dielen. Für einen Herzschlag war es, als würde die Taverne selbst ihn mustern – und ihn dann still hereinbitten.
Er blieb sofort stehen. In der hintersten Ecke saß eine Frau in Schwarz. Groß. Makellos. Umgeben von Krähen, die wie Schatten auf den Balken und Stuhllehnen saßen. Eine von ihnen hockte still auf ihrer Schulter und bewegte den Kopf nur langsam. Ihre Augen, so dunkel, dass sie fast das Licht verschluckten, ruhten auf ihm. Sie sagte nichts. Doch irgendetwas in seinem Inneren zog sich zusammen. Selbst die Taverne schien für einen Moment den Atem anzuhalten und das Feuer knisterte nur noch ganz leise. Eine erste Ahnung … er schob den Gedanken hastig beiseite und die Wärme des Kamins holte ihn ganz zurück.
„Das alles hier ist … absolut surreal“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Das hier … das kann nicht echt sein. Ein Traum vielleicht. Oder Fieber. Irgendetwas zwischen Wahn und Wunsch.“ Er starrte auf seine nassen Latschen, die Spuren auf dem blanken Holz hinterließen, und musste lachen. „Jogginghose und Hausschlappen – was auch immer das hier ist, es hat genau meinen Humor.“
Dann fiel ihm auf, wie leicht sich seine Beine anfühlten. Kein Ziehen, keine Schwäche, kein vertrauter Schmerz. Als hätte jemand für einen Augenblick alle Last von ihm genommen. Dieses Gefühl war so fremd und vertraut gleichzeitig, dass ihm plötzlich die Kehle eng wurde. Ein Teil von ihm wollte sofort zurück in den Sturm rennen, einfach um zu prüfen, ob sich die Welt dort wieder „normal“ anfühlte. Aber der andere Teil … der andere Teil sehnte sich nach dieser Wärme, nach diesem Gefühl von Heimkommen, das ihn überrollte. Vielleicht träumte er. Vielleicht war er verrückt. Oder vielleicht war er gerade nirgendwo – und genau da, wo er sein sollte.
„Guten Abend, kann ich Ihnen etwas bringen?“, fragte eine sanfte Stimme. Er drehte sich um. Hinter dem Tresen stand eine Frau. Mitte dreißig vielleicht, lange dunkelrote Haare zu einem Zopf geflochten, große blaue Augen, die mehr sahen, als sie sollten. Das mittelalterliche, cremefarbene Kleid mit der weißen Rüschenschürze ließ sie wirken, als sei sie aus einer anderen Zeit hierhergetreten. „Hast du ein Pils für mich? Krombacher, wenn’s geht.“ „Natürlich. Einen Moment.“ Sie lächelte, als hätte sie genau diese Frage erwartet, griff nach einem Krug und zapfte das Bier aus einem in die Wand eingelassenen Fass. „Bitteschön.“ „Heftiger Sturm da draußen, was?“ Sie stellte den Krug ab. „Ja …“, nickte er und nahm den ersten Schluck. Der Geschmack traf ihn wie eine Erinnerung. Er setzte den Krug ab, zögerte und fragte dann: „Das mag jetzt komisch klingen, aber … wo bin ich hier?“
„In der Taverne ‚Zur Schwelle‘. Ich bin Genevieve, die Wirtin.“ „Und wo soll das sein? Wie heißt diese Stadt? Ich hab noch nie davon gehört.“ Ihr Lächeln war ruhig, wissend. „Das ist normal. Hierher kommt niemand … ohne Grund.“ Etwas zog in seiner Brust. Keine Halluzination. Kein Traum.
Die nächste Frage blieb ihm im Hals stecken, und er merkte erst jetzt, wie seine Beine begannen, taub zu werden und er sich immer schwächer fühlte. „Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst, bevor du hierher kamst?“, fragte sie sanft. Er wollte antworten, aber die Worte kamen wie ein Flüstern: „Ich sterbe.“ Es war kein Gedanke. Kein Wort. Es war Wissen – klar und unumstößlich wie der letzte Herzschlag.
Die Panik erfasste ihn. „Ich … ich kann nicht … meine Tochter … meine Enkelkinder …“ Genevieve nahm seine kalten, zitternden Hände in ihre warmen, kleinen. Ein sanftes Prickeln durchfuhr ihn, tief bis in den Kern seiner Seele. Sein Atem wurde ruhiger, das Unwohlsein ließ nach. Er spürte es nicht in den Händen, sondern im Innersten: Zeit. Geliehen. Geschenkt. „Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte sie leise. „Sie schaffen das.“
„Weiß sie denn … wie lieb ich sie hab?“
„Das weiß sie längst.“
„Wie ist das möglich? Also DAS hier?“, er machte eine Geste die den Raum umfasste.
„Weisst du, hier ist alles möglich. Dieser Ort ist in jeder Hinsicht einzigartig.“ Die Wirtin sah ihn bedeutungsschwer an. „Lass es mich versuchen zu erklären: Diese Taverne befindet sich auf einem riesigen Knotenpunkt.“ ,sie machte eine kurze Pause, „Hier an dieser Schwelle läuft alles zusammen…Auch die Welt der Sterbenden und die Schwelle des Todes.“. Bei dem letzten Wort warf sie einen Blick über seine Schulter. Er folgte ihrem Blick zur Ecke.
Die Frau in Schwarz saß noch immer da. Still. Regungslos. Dann das Krähenkreischen. Die Tür öffnete sich von selbst. Licht flutete den Raum. Die Frau erhob sich. Ihre Stimme war weich und unausweichlich:
„Es ist Zeit. Die Tür wartet bereits“
Er atme tief durch, schaute Genevieve in die Augen. Dann zuckte er die Schultern und grinste schief.
„Tja, Hunde, wollt ihr ewig leben.“
Für den Bruchteil eines Augenblicks – kaum mehr als ein Atemzug – huscht ein Lächeln über das Gesicht der Krähenfrau. Auch Genevieve kicherte. Kam um den Tresen, hakte sich bei ihm ein und begleitete ihn zur Tür. Kurz bevor er hinausging, umarmte sie ihn fest. Für einen Herzschlag fühlte es sich wie Heimkommen an, so wie damals, wenn seine Tochter als Kind in seine Arme gerannt war. Er spürte einen mächtigen Kloß im Hals.
Als er durch die Tür trat, war da nur noch goldenes Licht. Und darin – seine Frau. Er wusste direkt, dass dies nicht das Ende war. Es war der erste Morgen einer neuen Welt. „Lass sie nicht warten. Du weißt ja, wie sie ist“, hörte er Genevieve sagen. „Danke … für alles“, flüsterte er und ging. „Mögen wir uns wiedersehen“, hauchte sie. Als die Tür ins Schloss fiel, war es, als würde die Taverne selbst einen leisen Atemzug tun – ein „Leb wohl“ aus Holz und Wärme.
Der letzte goldene Schimmer war verschwunden und nur das Knistern des Feuers blieb. Genevieve stand noch einen Atemzug in der Stille, bevor sie sich langsam umdrehte. Die Dame in Schwarz saß bereits wieder am Tisch, die Hände um eine Tasse gelegt, die sie nie bestellt hatte.
„Und wieder einer weniger.“ Sie sprach, als würde sie eine alte Liste abhaken. Weder Trauer noch Freude – nur Feststellung.
Genevieve nahm eine zweite Tasse, setzte sich ihr gegenüber. „Oder einer mehr, Beatrix.“
Beatrix hob leicht den Blick, ihre Augen schimmerten im Feuerschein. „Hm?“
„Einer weniger auf dem Weg“, sagte Genevieve ruhig, „aber einer mehr, der angekommen ist.“
Ein trockenes Lachen, kaum mehr als ein Hauch. „Du zählst anders als ich.“
„Zum Glück“, murmelte Genevieve, und ein winziges Lächeln zog ihre Lippen nach oben, bevor sie einen Schluck nahm.
Sie schwiegen, während das Feuer tief atmete. Kleine Funken stiegen aus der Glut, tanzten kurz in der Luft – und klangen wie ein Kinderlachen, wenn man genau hinhörte.
Beide lächelten. „Ein Anfang,“ sagte Beatrix schließlich, und ihre Stimme war für einen Moment weich.
„Ein Anfang“, wiederholte Genevieve leise.
Der Sturm hatte sich gelegt. Und drinnen warteten schon die nächsten Geschichten.